Vor 80 Jahren endete der 2. Weltkrieg und 80 Jahre ist ziemlich genau die männliche Lebenserwartung in Mitteleuropa. Liegt der erneute, beinahe globale Siegeszug des Faschismus wirklich daran, dass die letzten Menschen wegsterben die diesen Horror erlebt haben? Ich fürchte nicht. Völlige Entmenschlichung, die Aufgabe der letzten ethischen Überzeugungen, gibt es in jedem Krieg. Nicht immer, aber oft, auch die von oben gewollte Bestialität, bei der sich die Wehrmacht, die SS und heute islamistische Kämpfer und die russische Armee besonders hervorgetan haben und hervortun. Und auch der systematische Massenmord an Ethnien oder Glaubensrichtungen hatte Vorläufer und Nachfolger. Zwar nicht mit Zyklon B, aber durch nicht weniger qualvolle Methoden. Und quantitativ in den gleichen Dimensionen wie der Holocaust. Hier seien nur Stalin, Mao und Pol Pot genannt. Und gerade angesichts des Genozids in Gaza und der Verbrüderung Netanjahus mit Trump, frage ich mich, was die Menschheit überhaupt in den vergangenen 80 Jahren gelernt hat. Wenn es nicht einmal die Opfernachfahren getan haben! Ob es nicht ein Furzen gegen den Sturm ist, wenn ich heute Videos zeige über die Auseinandersetzung der Nachgeborenen mit der NS-Vergangenheit und morgen mit Stolpersteine verlege. Haben Jahrzehnte Gedenken irgendetwas bewirkt? Hat es vielleicht sogar Reibungsfläche für die neuen Nazis bereitgestellt?
Anfang/Mitte der 90er Jahre war ich zum ersten Mal in einem Konzentrationslager. Ich war oft auf dem Weg von Berlin nach Norddeutschland am Hinweisschild nach Sachsenhausen vorbeigefahren. Als ich endlich mal dorthin abbog fuhr ich bewusst alleine. Ich wollte unbeeinflusst in mich hineinhorchen. Was ich empfinde und denke. Entsetzen? Wut? Schuld? Verantwortung? Zunächst wurde mir in der Ausstellung zum ersten Mal klar, dass die Häftlinge bei der Ziegelproduktion für den Bau der Stadt Berlin geschunden wurden. Dann ging ich durch einen ehemaligen Gefangenenblock, den Sektionsraum und schließlich durch die Reihen mit den Mauerresten der ehemaligen Baracken. Ich fragte mich, was die Toten, wenn sie mit mir reden könnten, mir sagen würden. Was sie von den Nachgeborenen erwarten würden. Wenn ich an ihrer Stelle wäre. Und sie sagten mir: Es ist schön, dass wir nicht vergessen sind. Dass man unserer gedenkt. Aber es macht niemand von uns wieder lebendig. Denkt an die Lebenden und sorgt dafür, dass ihnen nicht noch einmal das Gleiche passiert!
Natürlich sagt einem da das Unterbewusstsein was man hören will. Aber zu welchem anderen Schluss soll man auch kommen? Ein ansonsten sinnloser Tod kann nur sinnvoll sein, wenn er andere verhindert. Es sei denn, man sieht die Welt mit den Augen eines Nazis.
Ich glaube, Gedenken ist gut. Aber viel wichtiger ist es, dem neuen Faschismus die Stirn zu bieten. Wissend und akzeptierend, welche Folgen es für einen haben kann. Schlimmstenfalls die gleichen, die die trafen, derer wir gedenken. Aber wir sind es ihnen und unseren Nachgeborenen schuldig. Es wird hoffentlich nie mit einer Waffe in der Hand sein müssen. Aber es heißt, die Stimme zu erheben, zu widersprechen. Nicht nur an der Wahlurne, sondern auf der Straße, in den Medien, juristisch, im täglichen Umgang miteinander – überall wo man gehört, gelesen oder gesehen wird!